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Jugendkriminalität

Eindämmung der Jugendkriminalität

Für eine effektive Bekämpfung der Jugendkriminalität ist die schnelle und konsequente staatliche Reaktion auf das kriminelle Verhalten junger Menschen („Die Strafe folgt auf dem Fuß“) ebenso ausschlaggebend wie das Bemühen, den jungen Straftätern rechtzeitig und zielgerichtet Chancen und Hilfsangebote für ein weiteres straffreies Leben zu eröffnen. Das Ministerium der Justiz und für Migration Baden-Württemberg setzt deshalb auf eine Strategie nach der Formel „Grenzen setzen und Chancen bieten“.

I. Aktuelle Entwicklung

1. Zahl der verurteilten jungen Menschen

Ab Anfang der 1990er Jahre waren die Zahlen verurteilter junger Menschen in Baden-Württemberg ebenso wie bundesweit und in vielen anderen europäischen Staaten kontinuierlich angestiegen. Bereits seit einigen Jahren stagniert diese Entwicklung; die Zahlen gingen die letzten Jahre zurück. Diesem Trend folgend (2013: -10,9%; 2014: -16%; 2015: -10,5%; 2016: -5,5%; 2017: -7,2%) ist die Zahl der verurteilten Jugendlichen (14-17-Jährige) - nach Anstiegen in den Jahren 2018 (+6,0%) und 2019 (+4,9%) - in den Jahren 2020 (-16%), 2021 (-14,9%) und 2022 (-9,4%) auf 2.768 im Jahr 2022 gesunken. Dies ist der niedrigste Wert seit 1952.

Auch bei den Heranwachsenden (18-20-Jährige) ist eine entsprechende Entwicklung zu erkennen. Zwar war noch im Jahr 2019 – entgegen der Vorjahre mit hintereinander deutlich sinkenden Verurteilungszahlen (2013: -4,1%; 2014: -8,1%, 2015: -2,3%; 2016: -3,2%; 2017: -6,8%) – im zweiten Jahr in Folge nach 2018 (+3,9%) ein Anstieg um 3,7% auf 9.034 Verurteilte festzustellen. Seit 2020 sind die Verurteilungszahlen jedoch wieder gesunken (2020: -10,4%; 2021: -15,3%; 2022: -8,8%) auf 6.257 verurteilte Heranwachsende im Jahr 2022. Dies ist ebenfalls der niedrigste Wert seit 1952.

Der Rückgang der Delinquenz junger Menschen in den vergangenen zehn Jahren erstreckte sich auf nahezu alle jugendtypischen Deliktsbereiche einschließlich der Gewaltkriminalität. Die davon abweichende besorgniserregende Entwicklung bei den Straftaten Jugendlicher gegen die sexuelle Selbstbestimmung (2019: +16,7%; 2020: +33,3 %; 2021: +15,2%) hat sich im Jahr 2022 fortgesetzt, wenn auch mit +2,3% weniger stark als in den Vorjahren. Dadurch wurde mit einem absoluten Wert von 132 Verurteilungen ein neuer Höchststand innerhalb der letzten zehn Jahre erreicht. Obwohl im Jahr 2022 weniger Jugendliche wegen einer Verkehrsstraftat verurteilt wurden als im Vorjahr (-2,4%), ist im Bereich der Verkehrstaten mit Trunkenheitszusammenhang wieder ein erheblicher Anstieg um 31,0% auf 55 Verurteilungen festzustellen (2019: 41 Verurteilungen; 2020: 52; 2021: 42).

Die Entwicklung der Verurteiltenzahlen junger Menschen im Zehnjahresvergleich (2013 bis 2022) wird durch die nachstehende Grafik verdeutlicht:



2. Gewaltkriminalität

Unter dem Begriff „Gewaltkriminalität“ werden entsprechend der Definition in der Polizeilichen Kriminalstatistik verschiedene Delikte mit Gewaltbezug zusammengefasst, beispielsweise Tötungsdelikte, qualifizierte Körperverletzungen und Raubdelikte . Im Jahr 2022 lag der Anteil der Verurteilungen in diesem Bereich an allen Verurteilungen bei den Jugendlichen bei 18,5% und bei den Heranwachsenden bei 7,8%, während er bei den Erwachsenen lediglich 2,4% betrug. Bei den Heranwachsenden sind die Verurteiltenzahlen gegenüber dem Vorjahr um -5,2% gesunken. Bei den Jugendlichen ist ein Rückgang um -2,3% zu verzeichnen. Im Jahr 2012 war die Anzahl der im Bereich Gewaltkriminalität verurteilten jungen Menschen noch mehr als doppelt so hoch als im Jahr 2022 (Heranwachsende: 2012: 1.039; 2022: 489; Jugendliche: 2012: 1.093; 2022: 513).

3. Intensivtäter 

Jugenddelinquenz ist bei der überwiegenden Mehrzahl aller jungen Täter eine vorübergehende Erscheinung. Bei einigen ist aber eine Verfestigung hin zu einer kriminellen Entwicklung zu befürchten oder sogar schon eingetreten.

Wenn es um die Bekämpfung der Jugendkriminalität geht, verdient daher diese Gruppe der sogenannten Mehrfach- und Intensivtäter besondere Aufmerksamkeit. Hierzu wurde in Baden-Württemberg schon im Jahr 1999 im Rahmen einer Präventionsinitiative gegen die steigende Jugendkriminalität das Initiativprogramm „Jugendliche Intensivtäter“ ins Leben gerufen, das sich nach einhelliger Auffassung der Praxis bewährt hat. Ziel des Projekts ist es, durch eine enge und institutionalisierte Zusammenarbeit der mit der Jugendkriminalität befassten Stellen, also Staatsanwaltschaften, Polizei, Jugendämter, Schulen und Ausländerbehörden, in einem frühen Stadium schnell und koordiniert auf intensive Delinquenz Jugendlicher zu reagieren.

In den Jahren 2022 / 2023 hat das Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen das bisherige Intensivtäterprogramm untersucht und zu einem Gesamtprogramm für „Besonders auffällige junge Straftäterinnen und Straftäter“ (BajuS) weiterentwickelt. Künftig wird sich die Bewertung des delinquenten Handelns primär an qualitativen Parametern der Straftat orientieren und weniger an der Anzahl der begangenen Delikte. Dadurch rücken Kinder und Jugendliche, deren Verhalten sich von Anbeginn eher im Bereich der Gewaltkriminalität bewegt, früher in den Fokus. Im Juli 2023 hat der Ministerrat die Umsetzung der Neukonzeptionierung zum Umgang mit BajuS beschlossen.

 

II. Reaktion durch die Justiz

1. Sanktionspraxis

Im Jahr 2022 wurden von den baden-württembergischen Gerichten insgesamt 9.025 Jugendliche (14-17-Jährige) und Heranwachsende (18-20-Jährige) verurteilt.

Bei den Heranwachsenden wurde von den Gerichten in nahezu der Hälfte aller Fälle (45,28%) noch das Jugendstrafrecht angewendet, obwohl die Täter volljährig waren. Dabei fällt auf, dass die Jugendgerichte gerade bei Gewalttätigkeiten von Heranwachsenden besondere Zurückhaltung bei der Anwendung des Erwachsenenstrafrechts üben, denn bei 89,32% aller Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung wurden die heranwachsenden Straftäter im Jahr 2022 nach Jugendstrafrecht verurteilt.

Bei den Verurteilungen nach Jugendstrafrecht (5.601) wurden in 19,4% der Fälle Jugendstrafen ausgesprochen. Dabei wurde nur bei der Hälfte (49,6%) die Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt, was den niedrigsten Wert der letzten zehn Jahre darstellt.

2. Dauer der Verfahren

Gerade bei jungen Menschen sollten Sanktionen möglichst in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Regelverstoß ergriffen werden, weshalb die staatliche Reaktion der Tat auf den Fuß folgen sollte. Die baden-württembergischen Staatsanwaltschaften und Gerichte achten daher besonders darauf, die Verfahrenslaufzeiten in Jugendstrafsachen zu beschleunigen.

Die durchschnittliche Dauer der Bearbeitung von Jugendstrafverfahren von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens bei der Einleitungsbehörde bis zur Erledigung durch die Staatsanwaltschaft betrug im Jahr 2022 3,1 Monate (2021: 3,0 Monate). Vom Tag des Eingangs der Sache bei der Staatsanwaltschaft bis zur Erledigung bei der Staatsanwaltschaft betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer in Jugendstrafverfahren im Jahr 2022 lediglich 1,5 Monate (2021: 1,4 Monate).

Im Jahr 2022 waren die Verfahren beim Jugendrichter regelmäßig nach 3,0 Monaten (2021: 2,9 Monate) abgeschlossen, beim Jugendschöffengericht nach 4,1 Monaten (2021: 4,1 Monate). Bei der Großen Jugendkammer (Landgericht I. Instanz) war ein Jugendstrafverfahren in Baden-Württemberg nach durchschnittlich 6,9 Monaten (2021: 6,6 Monate) abgeschlossen.

III. Projekte, die Chancen eröffnen

In Baden-Württemberg werden bereits seit vielen Jahren Präventionsprogramme in allen Justizbereichen, also im Ermittlungs- und Strafverfahren ebenso wie im Strafvollzug betrieben und fortentwickelt. Mit ihnen sollen weitere Straftaten verhindert und die Wiedereingliederung der straffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden durch gezielte Hilfestellungen sämtlicher in einem Jugendstrafverfahren beteiligter Institutionen erleichtert werden.

1. „Haus des Jugendrechts“ 

Einen vernetzten Ansatz verfolgen die insgesamt neun „Häuser des Jugendrechts“ im Land. Dort werden die Fälle in ressortübergreifenden Fallkonferenzen besprochen, die generelle Zusammenarbeit wird in Hauskonferenzen organisiert. In Stuttgart-Bad Cannstatt arbeiten Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe sowie Jugendsachbearbeiter der Polizei und der Staatsanwaltschaft bereits seit 1999 unter einem Dach zusammen. In der Folge wurden in Pforzheim (2012), Mannheim (2015), Heilbronn (2017), Ulm (2020), Offenburg (2020), Karlsruhe (2021), Waldshut-Tiengen (2022) und Villingen-Schwenningen (2022) „Häuser des Jugendrechts“ in Betrieb genommen. Das positive Ergebnis der eng verknüpften Zusammenarbeit ist neben der Verfahrensbeschleunigung die Möglichkeit, durch eine intensive Analyse der Situation des jeweiligen Jugendlichen individuell auf das delinquente Verhalten reagieren zu können.

Die Erfahrungen über die behördenübergreifende Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität aus der Tätigkeit im „Haus des Jugendrechts“ waren auch Modell für die sogenannte Diversions- und Zusammenarbeitsrichtlinien. Elemente, die das „Haus des Jugendrechts“ kennzeichnen, wurden bewusst aufgegriffen und als Maßstab bei der Bearbeitung von Verfahren gegen Jugendliche in Baden-Württemberg landesweit umgesetzt. Eine wichtige Rolle spielen hier das Wohnortprinzip bei der polizeilichen Sachbearbeitung, die Regionalisierung der Jugenddezernate der Staatsanwaltschaften und die Parallelbefassung der Jugendgerichtshilfe mit dem Ziel, erzieherisch gebotene Maßnahmen rechtzeitig in die Wege leiten zu können.

Eine Ausweitung der „Häuser des Jugendrechts“ in Baden-Württemberg ist vorgesehen. An zahlreichen Standorten streben die Akteure vor Ort die Errichtung eines „Hauses des Jugendrechts“ an. Die Planungen befinden sich in unterschiedlichen Stadien.

2. Geschlossene Einrichtung zur U-Haft-Vermeidung: Heinrich-Wetzlar-Haus

Das Heinrich-Wetzlar-Haus in Stutensee bei Karlsruhe ist eine Einrichtung zur einstweiligen geschlossenen Unterbringung von Jugendlichen zur Vermeidung der Untersuchungshaft. Träger des Heinrich-Wetzlar-Hauses ist eine gemeinnützige GmbH, deren Gesellschafter der Landkreis Karlsruhe ist. Baden-Württemberg stehen 12 Unterbringungsplätze zur Verfügung.

Zielgruppe sind männliche Jugendliche, gegen die ein Haftbefehl erlassen wird und gegen die deshalb Untersuchungshaft zu vollziehen wäre. Die mit dem Vollzug der Untersuchungshaft verbundenen Gefahren durch subkulturelle Einflüsse in den Jugendhaftanstalten sollen durch die Unterbringung im Heinrich-Wetzlar-Haus vermieden werden.

3. Jugendstrafvollzug in freien Formen (Projekt Chance)

Nach § 7 Abs.1 des baden-württembergischen Justizvollzugsgesetzbuchs IV können junge Gefangene bei Eignung in einer Einrichtung des Jugendstrafvollzuges in freien Formen untergebracht werden. Hierzu gestattet die Anstaltsleitung dem jungen Gefangenen, die Jugendstrafe in einer dazu zugelassenen Einrichtung der Jugendhilfe zu verbüßen. Folgende Einrichtungen sind zugelassen:

„Projekt Chance“ in Creglingen-Frauental

Träger: Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands gemeinnütziger e. V. (CJD); bis zu 15 Plätze für junge Gefangene.

„Seehaus Leonberg“

Träger: Seehaus e. V.; bis zu 15 Plätze für junge Gefangene.

Jugendstrafvollzug in freien Formen dient dem Schutz junger Gefangener vor subkulturellen Einflüssen, der Aufarbeitung von Entwicklungsstörungen, dem Training sozialer Kompetenzen, der Übernahme von Verantwortung, der Berufsorientierung und der Integration in die Gesellschaft. Bei der Konzeption ist man davon ausgegangen, dass die Zielgruppe Mehrfach- und Intensivtäter sind, die erhebliche Entwicklungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Bei ihnen muss frühzeitig und intensiv kriminalpräventiv interveniert werden.

Der Jugendstrafvollzug in freien Formen nach baden-württembergischer Ausrichtung unterscheidet sich deutlich von sogenannten „Boot-Camps“, weil die Menschenwürde und die Grund- und Menschenrechte der jungen Gefangenen Grundlage der Erziehung sind. Gleichwohl ist die pädagogische Ausrichtung persönlichkeitsfordernd und keine „Kuschelpädagogik“. Ein strukturierter Tagesablauf mit sozialem Training, Arbeit, Sport, Auseinandersetzung mit der Tat, nach Möglichkeit Täter-Opfer-Ausgleich, eine Konfrontation mit Fehlverhalten durch die Gruppe und andere verhaltensändernde Erziehungsmaßnahmen machen den Aufenthalt für die jungen Gefangenen gewollt anstrengend. Wer das Jahr durchhält, bekommt eine „zweite Chance“, z.B. in Form eines Arbeitsplatzes. Wer aufgibt, muss zurück in den Strafvollzug.

Der Tagessatz liegt bei 258,35 Euro und wird seit 2008 aus dem Staatshaushalt finanziert. Damit entspricht er den durchschnittlichen Kosten stationärer Einrichtungen für verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche.

4. Nachsorgeprojekt „Chance“

Im „Nachsorgeprojekt Chance“ wird auch jungen Strafgefangenen eine besonders intensive Betreuung im Übergang vom Strafvollzug in die Freiheit angeboten. Das Projekt wurde im Juli 2005 gestartet. Angesprochen sind Gefangene mit Endstrafe, vorzeitig Entlassene ohne Bewährungshelfer, Verbüßer von Ersatzfreiheitsstrafe und Personen, die nach Freispruch aus Untersuchungshaft oder im Rahmen der Wiederaufnahme aus Strafhaft entlassen werden. Mit dem Projekt soll vermieden werden, dass sie in das so genannte Entlassungsloch fallen. Der Rückfallgefahr soll durch eine Stabilisierung der Lebensumstände in dieser Situation vorgebeugt werden.

Das Projekt wird durch den Landeshaushalt finanziert. Die Durchführung obliegt dem Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg, einem Zusammenschluss von drei Dachverbänden, deren Mitgliedsvereine in der Straffälligenhilfe engagiert sind. Mit den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern ihrer Mitgliedsvereine stellen sie die Nachsorgekräfte. Das Nachsorgeprojekt Chance kennzeichnet insbesondere sein flächendeckendes Hilfe- und Unterstützungsnetzwerk. Es ist damit bundesweit einzigartig. Die Konzeption hat sich über die letzten Jahre außerordentlich bewährt. Baden-Württemberg kann mit dem Nachsorgeprojekt eine gelungene Möglichkeit aufzeigen, wie ein Hilfesystem in einem Flächenland funktionieren kann.

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